Über Depression

Eine Diagnose mit vielen Gesichtern.

Ein Gewicht, was sich auf meinen ganzen Körper legt.
Kurz fühlt es sich wie die Umarmung eines alten Freundes an.
Doch dann öffnet sich das große schwarze Loch vor mir.
Der Boden unter meinen Füßen wird mir weggerissen.

Ich falle und falle.

 

Eine Schwere liegt auf meinem ganzen Körper.

Meine Gedanken werden immer langsamer.

 

Es fühlt sich an, als wäre mein Gehirn nicht mehr in der Lage meinem Körper Befehle zu geben.

Ich muss aufs Klo.

Nach langem Überlegen, entscheide ich diesem Drang nachzugehen. Ich will aufstehen, aber meine Beine gehorchen mir nicht. Und es ist mir egal. Meine Umgebung fühlt sich unwirklich an. Als ob sie nicht wirklich da wäre. Oder ich in einer anderen Welt, die nichts mit meiner realen Umgebung zu tun hat.

Geräusche und andere Sinneseindrücke sind irgendwie verschwommen. Dumpf. Alles fühlt sich sinnlos an. Auch der Gang zum Klo. Warum sollte ich meinen Körperbedürfnissen nachgehen, wenn eh alles so egal ist. Existiere ich überhaupt noch. Und wenn ja, warum eigentlich? Nichts macht Sinn. Alles ist unglaublich anstrengend. Selbst der Gedanke, dass Nichts Sinn macht.

Ich weiß, dass ich aus diesem Zustand wieder rauskommen kann. Eine leise Stimme in meinem Kopf erinnert mich daran. Ich war schon so oft da, dass ich ungefähr weiß was mir hilft. Und gleichzeitig will ich gerade nicht. Ich weiß, dass ich gerade noch ein bisschen in diesem Zustand verharren will oder muss. Ich weiß, dass es einen Grund gibt, dass ich mich gerade so fühle. Und ich realisiere, dass mir dieser taube Es-ist-mir-alles-egal-Zustand gerade hilft. Dass ich meinen unglaublich starken emotionalen Schmerz gerade nicht aushalten würde, wenn er ungebremst auf mich treffen würde. Die Depression, so beschissen sie sich anfühlt, hilft mir gerade dabei diesen Schmerz zu überlebe.

 

Nicht immer hat sich meine Depression hilfreich angefühlt. Das schwarze Loch, das  mich daran gehindert hat, schöne Dinge in meinem Leben zu tun und zu genießen. Sie hat mir den Glauben daran genommen, dass ich die Fähigkeit habe, glücklich zu sein. Manchmal war ich nicht sicher, ob ich sie überleben würde. Und ohne das beherzte Hinschauen und Dasein von Menschen wäre ich heute vielleicht nicht mehr hier. 

Ich habe sehr lange gebraucht, um einen konstruktiven Umgang mit meiner Depression zu finden. Heute kann ich sagen, dass sie ein Teil von mir ist, der seine Berechtigung hat. Trotzdem wünschte ich mir natürlich, dass bestimmte Dinge in meiner Vergangenheit nicht geschehen wären. Dass mir meine Depression erspart geblieben wäre. Und in vielen Momenten beneide ich die Menschen, die sich nie mit diesem dunklen tiefen Loch herumschlagen mussten. Gleichzeitig kann ich mittlerweile dankbar sein, dankbar für all die Lektionen, die mich meine Depression gelehrt hat. All die Erfahrungen, die ich ohne meine Depression nicht gemacht hätte. Ich bin nicht meine Depression, sie definiert nicht, wer ich bin. Und doch ist sie ein Teil von mir.

Die Frage, die mein Leben verändert hat, war “Glauben Sie, dass Sie es verdienen, dass es Ihnen besser geht? Dass sie glücklich sein dürfen?”. In dem Moment, als mir die Frau in der Krisenintervention diese Frage stellte, konnte ich sie nicht mit “Ja”  beantworten. Ein Grund dafür waren viele Schuld- und Schamgefühle. Es hat lange gedauert, bis ich geschafft habe diese Schuldgefühle zu hinterfragen und festzustellen, dass ich für die schlimmen Dinge, die in meiner Kindheit passiert sind, keine Schuld trage. Und ab dem Moment habe ich langsam daran geglaubt, dass ich es verdiene, dass es mir gut oder zumindest besser gehen darf. Dass ich auch ein Recht habe, in meinem Leben glücklich zu sein. 

Diese Reise ist noch nicht abgeschlossen, und es gibt – wie gerade – immer wieder Rückschläge, Phasen, in denen ich wieder sich das schwarze Loch wieder vor mir öffnet bin. Mittlerweile erlaube ich mir zu hoffen, dass diese Rückschläge immer weniger werden. Ich kann heute besser auf mich aufpassen als früher. Das hilft mir recht früh zu merken, wenn sich wieder eine depressive Episode ankündigt. Ich kann heute über meine Depression und all die hässlichen Gedanken, die damit hoch kommen, reden. Ich habe wundervolle Freund*innen, die mich halten, wenn ich in den absurdesten Momenten ohne Ankündigung anfange zu weinen. Und die verstehen, dass ich für manche Dinge, wie das Antworten auf eine Nachricht, einfach keine Kraft habe. 

Depression ist eine Diagnose mit vielen Gesichtern. Jeder Mensch erlebt seine Depression anders. Manche Menschen schlafen extrem viel, manche fast gar nicht. Manche Menschen haben gar keinen Hunger und nehmen sehr stark ab, während andere Menschen genau das Gegenteil erleben. Bei manchen Menschen rasen die Gedanken, bei anderen werden sie so langsam und zäh, dass es sich unmöglich anfühlt, irgendetwas zu denken. Vielen Menschen fällt es schwer, sich zu konzentrieren und Entscheidungen zu treffen. Die meisten Menschen mit Depression können sich nicht mehr über Dinge freuen, die sie sonst begeistert hätten. Oft ist die Fähigkeit, sich zu freuen – zumindest zeitweise – ganz abwesend. Viele Menschen fühlen sich erschöpft. Oft werden starke Schuldgefühle empfunden. Der eigene Wert und teilweise auch der Wert des Lebens an sich wird in Frage gestellt. Dies kann bis zu Suizidgedanken, -absichten oder Plänen führen. 

 

Wenn ich in meinen Freund*innen-Kreis schaue, bin ich Eine unter vielen. Nicht alle nennen das, was sie erleben Depression, manche sprechen von Burn-out, andere von Erschöpfung oder einer komischen Trauerphase. Die Anzahl von Personen, die an Depressionen leiden, wird auf 3.8-9.2% geschätzt (WHO 2021; Hapke et al. 2019). Wie hoch die Dunkelziffer ist, ist nicht klar. Denn: in unserer Gesellschaft ist es immer noch tabuisiert in Therapie zu gehen und sich einzugestehen, dass man mit seiner psychischen Gesundheit kämpft. Bevor ich das erste Mal mit einer Freundin über meine Depression gesprochen habe, war da sehr viel Angst vor Verurteilung. Angst davor, mein Gegenüber zu überfordern. Angst, als verrückt und unnormal abgestempelt zu werden und dadurch vielleicht sogar eine Freundinnenschaft zu verlieren. Doch: Umso mehr ich darüber mit Menschen rede, desto klarer wird mir, dass das der einzige Weg ist. Wir müssen mehr über Depressionen und psychische Gesundheit im Allgemeinen reden.  Und gleichzeitig weiß ich, wie groß die Überwindung beim ersten Mal war. Das erste Mal aussprechen: Ich kämpfe mit einer Depression. Ich brauche Hilfe. Die ungläubigen Augen meiner Freundin, die hauptsächlich meine funktionierende, arbeitsame Seite kannte. Die mir erst nicht glauben wollte und mir dann erzählte, dass sie auch mit Depression kämpft. 

In unserer Gesellschaft ist der Leistungsgedanke allgegenwärtig. Ich bin, was ich leiste. Lange habe ich mich damit identifiziert. Meine Identität über meine Arbeit in politischen Gruppen definiert. Doch was passiert, wenn ich nicht mehr Leisten kann? Wer bin ich dann? Bin ich dann überhaupt noch ein wertvoller Teil der Gesellschaft? Habe ich dann noch ein Recht zu existieren? So absurd diese Gedanken vielleicht klingen mögen, jedes Mal, wenn ich eigentlich nicht mehr konnte, kamen sie. Wenn ich schon so sehr überarbeitet war, dass ich nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Die anderen brauchen mich. Ich muss weiter durchbeißen. Was bin ich noch wert, wenn ich nichts mehr tue und den ganzen Tag schlafe und mit meiner Depression kämpfe? 

In einer Gesellschaft, in der Leistung und Konsum das Maß aller Dinge sind, verheizen wir die (psychische) Gesundheit von Menschen. In einer Gesellschaft, in der das Individuum, der*die Einzelne, für alles selbst verantwortlich ist, geraten die “Schwächsten” schnell unter die Räder. Doch: Eigentlich zeigen diese Personen, wo genau unser System krankt. Ich bin mir ganz sicher, dass alle Menschen – nicht nur Menschen, die wie ich mit Depressionen kämpfen – unter dem vorherrschenden Leistungsdruck und Individualisierung leiden. Und dass wir zu einem Guten Leben für alle nur kommen, wenn wir eine solidarische und gerechtere Gesellschaft aufbauen. Eine Gesellschaft, wo Wohlstand in Freizeit und Spass gemessen wird. Eine Gesellschaft, in der Kooperation statt Konkurrenz gelebt wird. Eine Gesellschaft, in der wir kapitalistische andere problematische Muster zusammen durchbrechen. 

 

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